Wer mir erzählt, junge Menschen haben heute keinen Ansporn mehr, zocken lieber, sind bequem und lassen sich von Helikoptereltern versorgen, soll das hier lesen.
Seit 2019 lebe ich mit meiner Familie in Ravensburg. Hier gibt es jedes Jahr eine alte Tradition: Das Stadtfest genannt „Rutenfest“.
Geht offiziell 4 Tage, inoffiziell 14 Tage.
Das »Rutenfest«
Der Name ist ungewöhnlich und ja, mancherorts wird auch gemunkelt, der Name stammt von den Ruten, mit denen die Kinder früher in der Schule gezüchtigt wurden. Diese Ruten sind heute Eichenblätter und dienen zur Deko und zur Verzierung.
Das Fest startet traditionell an einem Samstag (»Rutensamtag« oder »Ruten raus« Samstag).
Beim »Trommlerkorps« gibt es Freitag / Samstag früh die Käpple-Übergabe (das sind die farbigen Mützen).
Am Nachmittag versammeln sich alle teilnehmenden Schüler-Gruppen auf einer Waldlichtung vor. Dazu muss man sagen, dass diese Gruppen Trommlergruppen oder Fanfarenzüge sind, die sich ein halbes Jahr im Voraus darauf vorbereiten und sich mit einigen Musikstücken vorstellen.
So sehen alle aus mit dem Vorbereitungs-Outfit. Jeans und einheitliches T-Shirt. Aufgepasst! Saubere Schuhe – ganz wichtig!
Sonntag ist es dann ruhiger. Instrumente werden geprüft, aufgehübscht, Outfit entstauben.
Ruhe vor dem Sturm. Gebügelt, Zeitpläne gesichtet und Fahnen an die Häuser gehängt. Auch schon mal einen Sekt mit den Nachbarn getrunken. Die Stadt und die Bürger bereiten sich auf die kommenden Tage vor.
Proben & Teambuilding & Organisation
In der Folgewoche ist noch Schule, aber da die Zeugnisse ja schon gemacht sind, besteht das Treiben eher aus Schulfest, gemeinsames chillen … ähhh grillen, hitzefrei etc. pp.
Zeitpläne werden an die Eltern verteilt (Fahrdienst), denn es ist eine alte Tradition, dass während des Stadtfestes viele private Gartenfeste stattfinden. Dort wird dann von allen Trommlergruppen »angetrommelt«. Natürlich nicht umsonst, sondern gegen eine Spende.
Für die Teilnehmer (nicht Besucher!) am Stadtfest wurde es dann am Donnerstag ernst. Gemeinsame Proben, Laufplan durchsprechen und sonstige geheime Ding, die nur Interne wissen dürfen. Auf jeden Fall sind die Trommler am Spätnachmittag wieder am Schulfest aufgetaucht und haben für Stimmung gesorgt.
Dann am Freitag geht es richtig los.
Die älteste Trommlergruppe »Trommlerkorps« bestehend aus 10-12 Klässler (Gymnasien) marschiert durch die Gassen zum Schwörsaal beim Rathaus.
Die Hutgasse
Die Hutgasse ist etwas Besonderes. Ein Highlight für Insider. Ehemalige – erkennbar an den farbigen »Käpple« – feiern die diesjährigen Trommler. Sie reisen von überall her an und haben sich Urlaub genommen für diese besonderen Tage. Übrigens: Die »Käpple« gibt es nicht zu kaufen, die muss man sich erarbeiten.
Beim »Trommlerkorps“ gibt es etwas Besonderes: Die Farben der Hüte haben eine Bedeutung, die ich auch erst nach 2 Jahren verstanden habe. Pinke Käpple (sag bloß nicht Mütze oder Hüte!!) sind für junge Trommler, die das erste Mal teilnehmen. Rot e Käpple sind für die Vortrommler, die schon im zweiten Jahr dabei sind. Blaue Käpple tragen all diejenigen, die sich um die Fahnen kümmern und grüne Käpple tragen all diejenigen, die im Abiturjahrgang sind und zu den 3 Hauptorganisatoren im jeweiligen Jahrgang zählten. D. h. Ihre Aufgaben umfassen: Organisation mit der Stadt, Umzug, Ball, Spenden, Zeitplan, Qualität der Musikstücke – Teamspirit aufbauen & Zusammenhalt gewährleisten, Freude & Spaß in die Truppe bringen. etc. pp.
Gegen 15 Uhr wird eine Art Spalier aus ehemaligen Schülern & Mitglieder für die Trommlergruppe gemacht. Roter Teppich – Rauchschwaden in blau-weiss ziehen durch die Gassen. Ehemalige zollen am Wegesrand ihren Respekt vor den Trommlern – und vor dem, was in den nächsten Tagen alles geleistet wird und im Voraus schon geleistet wurde. Dient zum Ansporn für die kommenden, anstrengenden Tage.
Die Schüler des »Trommlerkorps« (und soweit ich weiß, auch die der Turmfalken und der Landsknechte) starten schon im Januar mit Vorbereitungen. Sie gehen 3 x in der Woche zur Probe, haben zusätzlich ab Pfingsten Wochenendproben und ab Juli 5 x in der Woche Proben. Das »Trommlerkorps« muss parallel noch Spendengelder einsammeln, einen Ball organisieren und das traditionelle Adlerschießen planen und durchführen.
Übergabe der Schulfahnen und der Insignien
Nach der Hutgasse geht es zum Schwörsaal, neben dem Rathaus. Offizieller Start des Festes mit Salutschüssen im Nachgang. Anschließend trommelnd durch die Ravensburger Straßen und natürlich auch auf privaten Gartenfeste.
Hier der Blick in den Schwörsaal. Mehrere feierliche Zapfenstreiche und den eigenen kreierten Zapfenstreich 2023. Danach geht es mit den Schulfahnen und den Schärpen auf die Straßen Ravensburg.
Freitag Abend: Ende für uns Eltern und die Trommler um 23 Uhr. Da es noch eine harte Woche wird.
Zusammenfassung: Eine Woche voller Highlights
Damit ich euch nicht langweile – hier die Übersicht der folgenden Tage. Aufstehen in der Regel gegen 4:30 Uhr und Ende gegen 22:00 Uhr.
Samstag: Aufstehen, 4:30 Uhr. Los geht es um 6 Uhr: Alle Trommlergruppen trommeln durch die Ravensburger Straßen und treffen sich gegen Mittag auf dem großen Marktplatz.
»Antrommeln« bedeutet: Sich vor den Bürgern der Stadt vorstellen. Mir war es zu voll. Ich verkrümelte mich in eine Seitenstraße. Hörte zu und trank zusammen mit meinem Mann gemütlich ein Gläschen Sekt.
Sonntag: Aufstehen um 3 Uhr – Gottesdienst und anschließend den Weg zum Friedhof. Ehrung der Verstorbenen. Trommeln, Trommeln, Trommeln.
Montag: Aufstehen 4:30. Trommeln, Trommeln, Trommeln.
Mittags Bogenschießen der Realschüler
Dienstag: Aufstehen 4:30 Uhr. Trommeln, Trommeln, Trommeln.
Mittags Adlerschießen der Schüler aller Gymnasien
Mittwoch, Donnerstag, Freitag: Aufstehen etwas später … Trommeln, Trommeln, Trommeln.
Samstag: »Ruten vergraben« auf der Veitsburg. Alle Gruppen kommen im Laufe des Spätmittags / Abends nochmals zusammen und es wird gemeinsam oder hintereinander das Ende des Rutenfests betrommelt.
Achja, für alle Auswärtigen gab es den klassischen Rummel. Fresstände, Schießbuden, Boxautos, Bierzelt und Karusells. Laut, voll und bunt. Dazu gibt es keine Bilder. Diesen Bereich meide ich immer, denn das ist auf allen Stadtfesten gleich. Wenn du das vermisst, dann schau mal bei Google und »Oktoberfest« – da gibt`s die passenden Bilder. Mir geht es um Emotionen, nicht um Kommerz.
Impressionen
Die Deko an allen Häusern sind gleich. Ein Fahnenmeer in blau-weiss. In der Mitte der Fanfarenzug Rauenspurg e.V. und rechts antrommeln bis spät in den Abend.
Sonntag früh 5 Uhr auf dem Friedhof. Ehrung der Verstorbenen.
Links der Fanfarenzug Rauenspurg e.V. und rechts die Turmfalken. Es gibt noch die Landsknechte und die Schülertrommler, von denen ich dieses Jahr leider keine schönen Bilder gemacht habe. Man kann wirklich nicht überall sein, so viel passiert parallel.
Montag: Antrommeln beim Oberbürgermeister Ravensburg
Montag Mittag: Bogenschießen der Realschüler, aber, da brauchte ich eine Pause
Dienstag: Adlerschießen mit alten Armbrüsten der Gymnasiasten
Es hat uns als Familie zusammengeschweißt und uns Eltern Stolz gemacht.
Unsere Kinder haben Freundschaften fürs Leben gefunden, uns gezeigt, dass junge Menschen sehr wohl Durchhaltevermögen, Biss und Antrieb haben. Gleichzeitig auch Spaß haben und feiern können.
Sie sind bis zu 20.000 Schritte am Tag trommelnd oder trompetend durch die Stadt laufen, laut Schrittzähler. Blasen, Hunger, Sonnenbrand – aber auch Regengüsse (mit nassen Kleidern), Müdigkeit, Muskelkater – dazwischen sich selbst feiern, lachen und singen.
Fazit
Reale Erlebnisse sind bleibende Erlebnisse. Nur durch Emotionen schafft man Momente, die in Erinnerung bleiben – Jahrzehnte lang.
Dieser Beitrag ist sehr persönlich, um dich an Themen teilhaben zu lassen, die Verbindungen zwischen Menschen schaffen. Denn reale und gerade haptische Dinge bleiben länger in Erinnerung als digitale, schnelllebige Beiträge und Webseiten. Wenn du mit deinem Unternehmen in Erinnerung bleiben möchtest und professionelle Unterstützung im Marken- oder Corporatedesign suchst, melde dich gerne per E-Mail oder vereinbare einfach einen Termin zum kennenlernen.
Durch Emotionen schafft man Momente, die in Erinnerung bleiben.
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