Unser Alltag ist von Gewohnheiten geprägt. Gewohnheiten geben uns Orientierung und sparen uns Energie und Zeit. Denn eine Gewohnheit läuft automatisch ab, wir müssen nicht darüber nachdenken. So ist es auch mit der Lesegewohnheit.
Sie ist ein Programm, eine gleichartige Reaktionsweise oder eine Wiederholung von ein und derselben Situation. Lesegewohnheiten können sich im Laufe des Lebens aber ändern, sowohl in Bezug auf den täglichen Konsum, als auch in Bezug auf den Ort und das Medium.
Was ist eine Lesegewohnheit, was Leseverhalten?
Eine Lesegewohnheit kann uns das regelmäßige Konsumieren von Inhalten erleichtern. Zur Lesegewohnheit gehört die kulturell geprägt Leserichtung oder die Leseroutine, also die Häufigkeit des Lesens. Aber auch fester Leseorte wie ein Sessel oder eine bestimmte Tageszeit, an der wir aufnahmefähiger sind.
Lesegewohnheiten entstehen also aus Routinen und aus situativem Leseverhalten.
Meine ersten Leseversuche habe ich auf dem Sofa mit meinen Eltern unternommen. Später, in der Schule, mussten wir auf unserem Platz sitzen und die Texte konzentriert erfassen oder erörtern.
Erst in meinem Berufsalltag habe ich Kurz- und Onlinenachrichten gelesen und das meist in der Mittagspause oder auf dem Weg nach Hause.
Spoiler: Dazu muss ich allerdings auch sagen, dass ich mein Nokia Tasten-Handy noch bis 2003 benutzt habe.
Seither hat sich mein Lesekonsum erheblich geändert.
Neben Bücher habe ich jetzt einige digitale Formate, die ich regelmäßig konsumiere.
Dabei habe ich festgestellt, dass mein Leseverhalten zwischen den unterschiedlichen Medien variiert. Ich lese Bücher am liebsten im Urlaub, dann habe ich Zeit und kann von Anfang bis Ende ohne Unterbrechung lesen.
Digitale Medien konsumiere ich hingegen nicht am Stück, sondern nur für einen begrenzten Zeitraum. Gerne häppchenweise und größtenteils springe ich von Thema zu Thema, um mehr Inhalte in weniger Zeit zu erfassen.
Unterschiedliche kulturelle Lesegewohnheiten
Aber beginnen wir erst einmal mit den kulturellen Unterschieden, den Lesegewohnheiten verschiedener Länder. Kulturen haben über Jahrtausende hinweg eigene Schriften und Schriftsysteme entwickelt, sodass sich auch die Lesegewohnheiten unterschiedlich ausgeprägt haben.
Die geschriebene Sprache
Ab 4000 v. Chr entstanden die ersten Schriftsysteme. In Mesopotamien entstand die Keilschrift, der Vorläufer unserer Buchstabenschrift. Sie bestand aus piktografischen Zeichen, die wie Bilder gelesen wurden. Von links nach rechts.
In Ägypten wurden dann Hieroglyphen entwickelt (stilisierte Zeichnungen wie Piktogramme, Phonogramme und Zeichen, die irgendetwas dazwischen waren) und erst die Phönizier haben unsere alphabetische Schrift (phonographische Schrift – Lautschrift) etabliert, die aus 20-40 Zeichen oder Buchstaben bestand.
Westliche Schreibrichtung
In fast allen europäischen Kulturräumen werden die Texte waagerecht, rechtsläufig geschrieben. Die Buchstaben folgen der Reihenfolge unserer Laute. Wir schreiben von links nach rechts in einer Zeile. Und von oben nach unten.
Dem gegenüber wurden in der asiatischen Welt Piktogramme entwickelt, die auch heute noch benutzt werden.
Chinesische, koreanische und japanische Schreibrichtung
Ein besonderes Erlebnis hatte ich beim Lesen meines ersten japanischen Buches. Den hier ist die Leserichtung von oben nach unten (Zeilen) und von rechts nach links.
読
書
習
慣
Alles veränderte sich in meiner Denkstruktur, als ich eine andere Leserichtung einschlagen musste, um die Inhalte zu erfassen! Ich wollte die Zeichen am liebsten abschreiben und in meine gewohnte Reihenfolge bringen.
Spoiler: Mache ich übrigens, wenn der Text für mich schwer zu erfassen ist.
Und auch heute, nach 3 Jahren Übung, fällt es mir immer noch schwer, von oben nach unten und von rechts nach links zu lesen und ein Buch von hinten zu starten. Denn das japanische Buch beginnt für uns von hinten.
Der Titel ist dort, wo der Bund rechts ist.
Was für mich sehr gewöhnungsbedürftig ist.
Lesegewohnheit und Leseverhalten
Neben der Schreibrichtung ist auch der Ort des Konsums und die Vielfalt der Medienlandschaft entscheidend auf unsere gewohnten Lesemuster.
Die Digitalisierung hat bereits spürbare Veränderungen der Lesegewohnheit unserer Kinder und uns selbst bewirkt, die wir als Designer tagtäglich bei der Gestaltung berücksichtigen.
- Leseliteratur für Kinder wird immer häufiger in digitalen Medien konsumiert, die uns oft kleine Text-Häppchen präsentieren.
- Im Informationszeitalter werden komplexe Inhalte so vereinfacht, dass sie schnell und überall gelesen werden können.
- Durch Suchmaschinenoptimierung werden komplexe Inhalte einfach erklärt. Mein SEO-Tool meckert regelmäßig, dass mein Satzbau zu anspruchsvoll ist.
Die Gestaltung richtet sich nach der Aufmerksamkeitsspanne des Lesers
Wie lange kann sich ein Leser auf die Inhalte oder den Text konzentrieren? Ist die Lesedauer eine Zeitfrage oder eine Konzentrationsfrage? Oft erscheint es mir, dass die Aufnahmefähigkeit von komplexen Texten und Inhalten durch die Flut an Informationen begrenzt ist. Das wiederum hat Einfluss auf unsere Leseverhalten.
Gestaltungsrelevante Faktoren
- Weniger Zeit führt zu kurzen Texten und dem vermehrten Einsatz von Icons, Symbole und Bilder. Zusätzlich führt die vermehrte Nutzung von digitalen Medien auch dazu, dass wir keine komplexen Inhalte mehr lesen wollen.
- Barrierefreier Zugang der digitalen Medien wird bald für alle Unternehmen zur Pflicht. Das erfordert für Menschen mit Sehschwäche oder Sehbehinderung einfache Satzstrukturen und Schreibstil. Aber auch eine passende Schriftgröße und einen hohen Farbkontrast von Hintergrund und Schriftfarbe.
- Aufgrund der Flut an Information, habe auch ich mir angewöhnt einen Text nach relevanten Stichwörtern zu scannen. Ich lese nicht mehr alle Sätze bis zum Ende, sondern versuche den Inhalt schnell zu erfassen und entscheide auch früh, ob die Information für mich relevant ist.
- Links unterbrechen leider den Lesefluss und auch ich verliere dadurch gerne den Fokus. Oft ertappe ich mich dabei, Webseiten-Hopping zu machen und mich vom eigentlichen Thema zu entfernen.
- Digitale und analoge Welten erfordern unterschiedliche Gestaltung, abhängig vom Ort des Konsums und des jeweiligen Mediums.
- Ständig wechselnde, individuell skalierbare Bildformate sind eine Herausforderung für eine optimale Gestaltung von Schrift und Bild.
Ich muss zugeben, digitale Texte lese ich in der Regel nur einmal. Sie sind zu schnell im Nirwana verschwunden oder es folgen schon die nächsten Texte. Deshalb stelle ich mir bei jedem Projekt die Frage: Was soll davon in Erinnerung bleiben? Welche Inhalte sind relevant und wie kann ich sie optisch darstellen, dass sie gut und schnell erfasst werden können. Neue Medien verändern unser Verhalten und somit unsere Lesegewohnheiten. Dies erfordert individuelle Visualisierungen von Inhalten.
Beeinflusst der Abstand des Lesers zur Schrift die Lesbarkeit?
Unterschiedliche Leseverhalten erzeugen auch eine Vielfalt an gestalterischen Lösungen. Anstelle von einem Medium, in dem ein Text erscheint, gibt es heute mehrere Medien, mit denselben Inhalten, nur individuell adaptiert. Inhalte werden also mehrfach genutzt und auf das individuelle Leseverhalten optimiert. Jedes Medium hat hier seine spezifischen Anforderungen.
Was bedeutet das für die Gestaltung?
- Schwierige oder komplexe Inhalte müssen in digitalen Medien einfach kommuniziert werden. Dabei können Bilder, Zeichen, Symbole, Grafiken oder optische Hierarchien z. B. der Typografie eine bessere Lesbarkeit unterstützen.
- Eine kurze Verweildauer erfordert eine zielgerichtete Gestaltung. Egal ob ein Plakat oder ein Handy, beide Medien werden im Vorbeirauschen konsumiert. Also ist es wichtig, sich von der Masse abzuheben.
- Wecke Neugier. Soll der Leser dranbleiben und auch die Folgeseiten anschauen, muss die Gestaltung zuerst auffallen und dann zum Weiterlesen animieren.
- Bilder und Typografie können die Blickrichtung oder die Leserichtung bewusst steuern, um auf wichtige Inhalte wie einen Termin oder einen Call to Action hinzuweisen.
- Passende Schriftgrößen und Zeilenabstände erleichtern das Lesen und den Lesefluss.
- Schriftgröße und die Textlänge sind abhängig vom Ziel-Medium. Der Abstand zwischen den Augen und dem Text ist hier relevant für die Auswahl. Vereinfacht gesagt: Ein Messestand benötigt eine größere Schrift als eine SMS.
Schriftgestaltung richtet sich nach dem Blickfeld des Lesers
Das Blickfeld des Lesers ist begrenzt. Wer schon einmal an einer Anzeigentafel am Flughafen stand, geht gerne ein paar Schritte zurück, um einen besseren Überblick über die Zeilen zu bekommen. Denn wir lesen Texte, die in unserem Blickfeld sind, weitaus lieber. Eine zusätzliche Kopfbewegung wird als unangenehm empfunden.
Also prüfen: Liest ein Besucher einer Messe lieber eine Infotafel oder den Flyer auf dem Messestand? Wie viel Text und welcher soll auf eine Tafel und wie viel auf einen Flyer? Wohin kommt die emotionale Botschaft und wo steht die technische Information?
Die Texte sollten vor der Gestaltung genau darauf angepasst werden. Sowohl von der Länge pro Zeile als auch vom Zeilenabstand, von den Buchstabenabständen oder der Schriftwahl, um nur einige Kriterien zu nennen.
Denn Menschen lesen lieber Texte, die angenehm zu lesen sind. Bei denen die Augen nicht müde werden, deren Zeilenabstände die Blickführung unterstützen und durch Absätze und Aufzählungszeichen schneller erfassbar sind.
Das war früher einfacher, als es nur analoge Medien gab. Die Wiedergabeformate waren technisch bedingt eingeschränkt. Neben DIN-Formate gab es noch Großformate. Das war´s.
Heute steht ein Leser vor einer Plakatwand in einer Ausstellung. Oder hat er ein Buch, Laptop, PAD oder doch eher sein Handy in der Hand? Die Lesegewohnheit zu kennen, ist relevant bei der Festlegung der richtigen Typografie.
Unterschiedliche Medien. Unterschiedliches Leseverhalten.
Die Plakatwand
Sitzt man in einem Fahrzeug, einem Auto, einer Bahn oder auf dem Fahrrad entscheidet die jeweilige Geschwindigkeit, wie schnell man an einem Plakat vorbeirauscht. Der Leser hält in der Regel nicht inne, um eine Information genauer zu studieren. Steht man hingegen an einer Bushaltestelle oder in der U-Bahn und wartet auf die nächste Bahn oder den Bus, ist die Zeitspanne höher. Die Regel ist 2-3 Sekunden, soviel Zeit hat ein Betrachter die Botschaft zu bemerken und das Thema zu erfassen.
Ausstellungsdesign & Events
Auf Veranstaltungen sind in der Regel viele Menschen in einem Raum und verdecken den Blick. Alles, was unter 80 cm platziert ist, wird nicht wahrgenommen. Hier muss sowohl die Fernwirkung als auch die Nahwirkung berücksichtigt werden. Möchte man Aufmerksamkeit und Neugier erzeugen oder steht der Informationsgehalt im Vordergrund. Was gehört auf welche Tafel, Wand oder in einen Ständer.
Das Buch
Bei einem Buch oder Magazin kann man davon ausgehen, dass der Leser dieses bewusst gewählt hat, um sich für den Inhalt auch Zeit zu nehmen. Und selbst wenn er unterbrochen wird, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er dort weiterliest, wo er unterbrochen wurde. Lange oder komplexe Texte werden in Kauf genommen. Hauptsache, der Informationsgehalt passt. Die Schriftart, die Schriftgröße, Absätze, Einzüge und der Zeilenabstand sollten so ausgewählt sein, dass die Augen nicht müde werden. Das ist dann Detailtypographie, das Sahnehäubchen der Schriftgestaltung.
Der Computer oder das PAD
Texte an einem Bildschirm haben ihre eigenen Regeln der Gestaltung. Denn die unterschiedlichen Bildschirmgrößen erfordern eine flexible Wiedergabe. Der Text muss sowohl in einem kleinen Browserfenster als auch bei einer hohen Auflösung funktionieren. Nicht zu vergessen die Farbkontraste zwischen Hintergrund und Schriftfarbe, die eine Anforderung für barrierefreie Gestaltung sind!
Das Handy
Dieses digitale Medium ist auf Unterhaltung oder schnellen Konsum ausgerichtet. Kurz und knapp. Zuhause oder Unterwegs. Mit und ohne Ton. Alles ist möglich, mit anderen Worten, der Content muss klar, schnell zu erfassen sein und auch Spaß machen.
Was passiert, wenn ein Designer die Lesegewohnheit des Lesers bewusst durchbricht?
Stell dir vor, du nimmst ein Buch in die Hand und willst es ganz normal aufklappen und los lesen. Du stellst plötzlich fest, dass das Buch von hinten startet, der Texte auf dem Kopf steht oder dass dein Buch von beiden Seiten (von hinten oder vorne) gelesen werden kann. Und genau dieser Moment wird dir in Erinnerung bleiben. Störe die Gewohnheit des Betrachters und du bekommst mehr Aufmerksamkeit. Das kann man mit einer Standardgestaltung nicht erreichen.
Ein typischer Effekt, der in der Werbung häufig genutzt wird.
Lesegewohnheiten zu kennen, hat viele Vorteile. Z. B.:
- Sind Texte angenehm zu lesen, verkauft sich ein Buch besser.
- Wird der Blick des Lesers bewusst auf eine Anzeige gelenkt, erhöht sich die Reichweite.
- Bewegt sich etwas auf dem Bildschirm, kannst du sicher sein, dass sich deine Kinder nur schwer davon loslösen.
Mit über 30 Jahren Erfahrung in der Gestaltung von Bild & Text kenne ich Lesegewohnheiten der digitalen und analogen Medien.
Übrigens war dieses Thema auch eines von vielen Themen in meinem ersten Grafikdesign Gruppenprogramm, das ich im Oktober abgehalten habe.
Meine Teilnehmer haben gelernt:
- Wie wird das Lesen angenehm?
- Wie kann man die Blickrichtung durch Schrift beeinflussen?
- Wie erzeugt man durch Typografie Aufmerksamkeit?
- Wie erzeugt man Spannung und Dynamik durch die richtige Positionierung von Bild und Schrift?
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Ich plane bereits eine Workshop-Reihe und Design-Coworkings für 2023.
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